Zitiert: Warum viele Ostdeutsche Schutz in der Selbstzensur suchen

Als mir dann in den ersten Verrissen scharfer Gegenwind entgegenschlug, begann ich zu verstehen, warum so viele Ostdeutsche Schutz in der Selbstzensur suchen. Eine der ersten Besprechungen begann gleich damit, mich als „Tochter eines Offiziers der Nationalen Volksarmee“ vorzustellen und mir zu unterstellen, meine Perspektive sei „den Erzählungen der Eltern“ entsprungen, was dann schließlich den „Unfug“ (mit Ausrufezeichen) in meinem Buch erkläre. Halbsatz-Zitate stellten ganze Kapitel auf den Kopf und werden seitdem dankbar von Journalisten aufgegriffen, die keine Lust haben, das Buch auch nur aufzuschlagen.

Der Auftakt war gemacht, und in diesem Ton ging es weiter. Als „Tochter eines Systemträger-Ehepaars“ konnte ich ja nur ein „seltsames Buch“ produzieren, fand eine Tageszeitung. Ein anderer Rezensent schrieb gleich mehrere Verrisse in verschiedenen Medien. Selbst eine Fachzeitschrift warf mir vor, eine „Vertreterin der Dritten Generation Ost“ zu sein, „die sich bemüht, sich das Leben ihrer Elterngeneration anzueignen“. Auch hier wurde (mit Seitenangabe) der aus dem Kontext gerissene Halbsatz bemüht, ich würde empfehlen „die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“, als ob der ein Plädoyer dafür wäre, mit der DDR für immer abzuschließen.

In einer anderen Zeitschrift wurde der Halbsatz weiter umgebogen und mir unterstellt, ich rufe dazu auf, die DDR-Geschichte per se abzuschütteln. Dass ich genau das Gegenteil fordere, wissen die Autoren sicherlich. Denn der vollständige Satz in meinem Schlusswort lautet: „Vielleicht gelingt es ihnen [der jungen Generation], die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln, den Zwang, die eigene Geschichte ‚überwinden‘ zu wollen“. Er war Ausdruck meiner Hoffnung auf „eine fließende, offene und veränderbare Interpretation eines Landes, das es nicht mehr gibt, das kein Feind mehr ist“, wie es dort weiter heißt. […]

Geschichte ist mehr als nur ein Zusammentragen von Fakten. Sie besteht auch aus Dialog. Genau dazu wollte ich einladen, und zwar nicht nur deutsche Fachspezialisten, sondern Leser weltweit. Dieser Ansatz ist genauso neu wie die (internationale) Resonanz darauf. Ich hatte gehofft, dass man dieses breite Interesse am Thema DDR auch in Deutschland begrüßen würde.

Katja Hoyer, berliner-zeitung.de, 07.04.2024 (online, Paid)

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