Ich habe als Kriegsreporter beobachtet, wie der IS Irak überrannt hat. Daher muss ich sagen: Mich überrascht das gar nicht. Das ist in den Kriegen, die ich miterlebt habe, sogar üblich. Kriegsverbrechen werden in Deutschland als etwas Besonderes oder Außergewöhnliches gesehen. Ich wüsste aber kein Beispiel, wo es sie nicht gegeben hat. Ja, die Bilder erschossener Zivilisten waren sehr drastisch. Aber in den Berichten aus der Ukraine oder aus anderen Ländern, wo die russische Armee im Einsatz war, gab es immer sehr ähnliche Bilder. Insofern haben die Journalisten hier vor Ort eigentlich nur darauf gewartet, wann diese Bilder kommen. Sie waren weniger überrascht, als sie kamen. …
Doch Bilder von Zivilisten, die beim Abzug der russischen Truppen gefesselt und erschossen wurden, sind eben einfach sehr konkret. Das ist kein Bild, das sagt: ‚Da war jemand zur falschen Zeit am falschen Ort, als der Panzer vorbeirollte.‘ Dieses Bild sagt: ‚Es könnte jeden treffen.‘ Und es ist eben auch einfach hochgradig moralisch verwerflich. Deswegen liegt hier jetzt der Fokus. Aber ich fürchte, das Interesse wird bald auch wieder abflauen und weiterwandern.
Enno Lenze, berliner-zeitung.de, 4.4.2022 (online)