Was der Verfassungsrechtler Dieter Grimm unter Grundversorgung versteht

„Nun könnte man natürlich auf den Gedanken kommen, dass sich das verfassungsrechtliche Gebot der Staatsfreiheit des Rundfunks am besten durch privaten Rundfunk erfüllen ließe. Privat heißt freilich zugleich kommerziell, und gerade wegen der Notwendigkeit, sich aus Werbeeinnahmen zu finanzieren, wird dem privaten Rundfunk die ungeschmälerte Erfüllung dieses Auftrags nicht zugetraut. So wie staatlicher Rundfunk in Gefahr ist, für politische Zwecke instrumentalisiert zu werden, wohnt dem privaten Rundfunk die Gefahr inne, dass er den verfassungsrechtlichen Auftrag seinen kommerziellen Interessen unterordnet. Deswegen muss die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Funktion anderweitig gesichert werden, und das Mittel dazu ist der öffentlich-rechtliche, aber eben nicht-staatliche Rundfunk.

Privaten Rundfunk in der gegenwärtigen Gestalt kann es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur so lange geben, wie jedenfalls der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine meinungsbildende Funktion vollständig erfüllt.

Das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Ausdruck „Grundversorgung“ geprägt. Dieser Ausdruck wird gerne missverstanden, obwohl das Gericht an seinem Sinn keinen Zweifel gelassen hat. Deswegen will ich nochmals betonen, dass Grundversorgung im Sinn der Verfassungsrechtsprechung weder eine Minimalversorgung ist noch eine Arbeitsteilung derart, dass die Privaten alles tun dürfen, was Gewinn verspricht, während der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf das beschränkt wird, was sich wirtschaftlich nicht auszahlt. Grundversorgung im Sinn der Verfassungsrechtsprechung ist Vollversorgung. Vollversorgung heißt, dass es neben Information, Bildung, Kultur und Beratung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch Unterhaltung und natürlich auch Sport geben darf.

Dass auch Unterhaltung zum Auftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks gehört, wird oft bestritten. Im Interesse der kommerziellen Wettbewerber wäre es, wenn sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus diesem Sektor zurückziehen müsste. Dagegen sprechen aber zwei Gründe, ein prinzipieller und ein eher pragmatischer. Der prinzipielle Grund scheint mir der zu sein, dass auch in Unterhaltungssendungen, oft sogar nachhaltiger und wirksamer als in informativen oder kulturellen Sendungen, Werte vermittelt oder demontiert werden, Weltsichten und Einstellungsmuster geprägt werden, Verhaltensstandards gesetzt oder verändert werden, die sich dann wieder in der politischen Einstellung und im sozialen Verhalten niederschlagen. Trifft das zu, würde der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Auftrag aber nicht mehr gerecht werden, wenn er sich von Unterhaltung verabschieden müsste.

Der pragmatische Grund ist der, dass ein öffentlichrechtlicher Rundfunk ohne Unterhaltungssparte schnell zu einem Nischenrundfunk werden würde. Wir befänden uns dann in der Nähe des amerikanischen PBS. Aber, und das ist mir ausgesprochen wichtig, auch in den Unterhaltungssendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss der öffentlich-rechtliche Anspruch erkennbar sein.

Nicht alles, womit die kommerziellen Wettbewerber die Aufmerksamkeit des Publikums zu erringen suchen, ist dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erlaubt. Die Rundfunkgebühr findet ihre Rechtfertigung gerade darin, dass der öffentliche Auftrag eben ohne Rücksicht auf Werbeinteressen und ohne Rücksicht auf Gewinnstreben erfüllt werden kann. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk das nicht mehr tut, das heißt, wenn sein Programm von dem Programm der privaten Veranstalter ununterscheidbar wird, dann entfällt seine Existenzberechtigung. Dessen muss man sich immer bewusst sein. ….

So viel man also klagen mag über den Quotendruck: ins duale System ist er eingebaut, man entkommt ihm nicht. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk verlangt das einen schwierigen Spagat ab. Auch in der Massenattraktivität muss er seinen Anspruch wahren.

In rechtlicher Hinsicht ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk für diesen Wettbewerb gut gerüstet. Im Dualen System genießt er eine Bestands- und Entwicklungsgarantie, und zwar in jeder Hinsicht: programmlich, technisch, finanziell. Die Interessenvertreter der privaten Veranstalter sehen darin gerne eine wettbewerbswidrige Bevorzugung. Aber sie übersehen das Junktim, das durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts damit verbunden ist. Den privaten Veranstaltern wird ja konzediert, dass sie den verfassungsrechtlichen Rundfunkauftrag wegen der Zwänge ihres Finanzierungsmodus nicht in vollem Umfang erfüllen können. Das hält das Bundesverfassungsgericht jedoch verfassungsrechtlich nur dann für erträglich, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk voll funktionsfähig bleibt. Sollte das nicht mehr der Fall sein, müssten zwangsläufig die Anforderungen an die privaten Veranstalter erhöht werden. Existenz und Funktionstüchtigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind auf diese Weise gewissermaßen im Eigeninteresse der privaten Veranstalter verankert. Fiele er aus, würde ihnen die volle Erfüllung des Rundfunkauftrags aufgebürdet.

Nun ist freilich nicht zu übersehen, dass der öffentlichrechtliche Rundfunk bei diesem Spagat oft versagt. Das gilt vor allem im Unterhaltungssektor. Namentlich bei den Vorabendprogrammen fällt es manchmal schwer, die Unterschiede zu entdecken, auch wenn man anerkennt, dass er sich von den Exzessen mancher privater Formate fernhält. Die Angleichung hat natürlich etwas mit dem Quotendruck zu tun, aber sie hat auch mit der Werbefinanzierung zu tun. Im Vorabendprogramm ist Werbung zulässig, in der Primetime nicht, wenn man vom Sponsoring absieht, das im Publikum ohnehin nicht von der Werbung unterschieden wird. Für das Profil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre es besser, wenn die Werbefinanzierung völlig entfiele, wenn für die Programmgestaltung also gar keine finanziellen Anreize mehr maßgeblich wären. …

Woher also den Kontrolleur nehmen, wenn es der Staat, der an sich das Interesse der Gesellschaft vertritt, nicht sein darf? Das Dilemma ist so gelöst worden, dass man die Gesellschaft für den Zweck der Rundfunkkontrolle durch die sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen repräsentieren lässt. Es sind mithin Organisationen, die Vertreter in die Aufsichtsgremien entsenden.

Das ist allerdings keine vollkommene Lösung, wenn auch eine bessere schwer zu finden ist. Sie ist zum einen unvollkommen, weil die Gesellschaft nicht nur aus organisierten Interessen besteht, und zum anderen, weil diese Organisationen gerade zur Verfolgung partikularer Interessen und nicht des Gesamtinteresses gegründet worden sind. Die Rundfunkgesetze und die Staatsverträge suchen mit diesem Problem fertig zu werden, indem sie zwischen der Rekrutierung der Aufsichtsgremien und der Aufgabenwahrnehmung differenzieren.

Die Rekrutierung läuft über Organisationen. Aber bei der Aufgabenwahrnehmung dürfen sich die Mitglieder der Gremien nicht als die Repräsentanten derjenigen Interessen verstehen, die ihre Organisationen vertreten. Vielmehr müssen sie einen Rollenwechsel vollziehen und sich hier als die Sachwalter des Gesamtwohls verstehen. Der Interessenmantel wird an der Garderobe zurückgelassen, die Person tritt ein.

Natürlich sollen die Mitglieder der Gremien dadurch nicht gehindert werden, die Erfahrungen, die sie in ihrem jeweiligen Lebensbereich sammeln, und die spezielle Aufmerksamkeit, die sie dort ausbilden, in den Gremien zur Geltung bringen, aber eben nicht im Sinne einer Interessenvertretung. Auch das ist ein schwieriger Spagat, und wer nicht bereit ist, ihn auf sich zu nehmen, dürfte sich nicht in einen Rundfunkrat entsenden lassen.

Weil es in diesem Gremium nicht um Interessenvertretung geht, gibt es auch keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Sitz. Organisationen, die vom Staatsvertrag oder von den Rundfunkgesetzen übergangen worden sind, können sich nicht einklagen. Verfassungsrechtlich kann die Zusammensetzung des Gremiums nur darauf geprüft werden, ob sie offenbar willkürlich oder zweckwidrig ist. Das wird relativ selten der Fall sein. …

In diesem Zusammenhang möchte ich zum Schluss noch auf ein Argument eingehen, das in der rundfunkpolitischen und rundfunkrechtlichen Auseinandersetzung oft fällt: Eigentlich sei der marktgesteuerte private Rundfunk viel demokratischer als der öffentlich-rechtliche, und zwar deswegen, weil das Publikum genau das Programm bekomme, was es durch seine Einschaltentscheidungen wolle. Der mündige Bürger brauche keine Bevormundung durch öffentlich-rechtliche Anstalten.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk sei eine Form des Paternalismus. Mündigkeit ist indes eine höchst voraussetzungsvolle Eigenschaft. Die Mündigkeit des Bürgers muss einerseits immer unterstellt werden. Andererseits muss sie aber auch ständig gestützt werden. Sie tritt nicht einfach mit dem 18. Lebensjahr ein und bleibt dann bis zum Lebensende erhalten. Sie will gepflegt sein, und dabei kommt den Medien eine wichtige Rolle zu.

Mündigkeit hängt vor allem davon ab, dass man Wahlmöglichkeiten hat und sie kennt. Pluralität des immer Gleichen erlaubt keine wirkliche Wahl. Für massenattraktive Unterhaltungssendungen muss man nicht eigens Vorsorge treffen. Ohne Vorsorge würde es aber an solchen Alternativen fehlen, die das Publikum nicht nur ablenken und zerstreuen, sondern es ins Bild setzen über die Befindlichkeiten und Probleme der Gesellschaft, es konfrontieren mit Alternativen und dadurch überhaupt erst zur eigenen Meinungsbildung befähigen. Mit Paternalismus hat das nichts zu tun. Paternalismus läge vor, wenn dem Nutzer vorgeschrieben würde, was er zu hören oder zu sehen hat. Davon ist aber keine Rede. Gesteuert wird vielmehr nur das Angebot, und zwar im Sinne größeren Reichtums. Das ist Dienst an der Mündigkeit, nicht Paternalismus.“

(Dieter Grimm zur Rolle der Rundfunkräte vor dem RBB-Rundfunkrat am 5. Mai, dokumentiert in epdmedien, 28/2011, S. 37 ff.)

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Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)