Sein bester Freund ist in diesem Jahr gestorben, seine Frau ist vor drei Tagen ausgezogen. Und dann hört er auf, die Nachrichten abzulesen und spricht über sich. […] Er war nur der Mann, der ihre Worte aufsagte, dachte er. Ein Mann mit Latz. Irgendwann, wahrscheinlich sehr bald, würden sie ihn ersetzen. Durch einen Avatar, ein Bandmitglied von Abba vielleicht, Benny, mit Weihnachtskrawatte. […]
Marlis reichte ihm seinen Manuskriptstapel, obwohl er die Nachrichten seit ein paar Jahren vom Teleprompter las. Die Leute dort draußen, so sagte man, liebten diese Blätter. Es gab ihnen das Gefühl, dass die Welt stillstand. Für fünfzehn Minuten hielt die Zeit an. Alles, was passierte, war auf diesen Blättern festgeschrieben. Der Altersdurchschnitt des „Tagesschau“-Publikums lag bei 64 Jahren. Sie hatten alles gesehen. […]
Sie hatten das „… meine Damen und Herren …“ vor ein paar Tagen herausgestrichen. Es war der Öffentlichkeit mitgeteilt worden wie eine Verfassungsänderung. Er hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt, am Heiligen Abend, vermisste er es doch. Den Charme der Bordkapelle der Titanic. […]
Marlis, Jonah und ihre Kollegen schrieben ihm pro Sendung zwei Fragen auf, die er vortrug wie ein Drittklässler ein Gedicht. John Maynard war unser Steuermann. Aus hielt er, bis er das Ufer gewann. Er war die Maske der Berechenbarkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dachte Ludwig. Was passiert da eigentlich im Nahen Osten, Knut? Können Sie uns die verschiedenen syrischen Rebellen erklären, Peter? Welche Rolle spielt denn Pennsylvania bei den Präsidentschaftswahlen, Carola? Er moderierte die Sendung mit der Maus für die Generation 50plus.
Alexander Osangs Weihnachtsgeschichte, berliner-zeitung.de, 24.12.2024 (online)