Obwohl inzwischen aber jeder weiß, dass sich die Gender-Debatte wie etwa auch der Dreadlock-Diskurs unlösbar ins Gewinde verfangen haben, jagen Konzertveranstalter weiterhin Filzlocken von der Bühne. Universitäten verzichten auf ihre akademische Deutungshoheit und laden Referentinnen aus, nicht weil sie müssen, sondern weil ein paar Streber es so wollen. Verlage geben die Unverletzlichkeit literarischer Kunstwerke preis, indem sie Romanen sogenannte Trigger-Warnungen vor unbehaglichen Gewaltszenen voranstellen, ohne zu begreifen, dass sie den Text ihres Autors damit vorab kriminalisieren. […]
Die Zeit der großen, wertstiftenden Institutionen ist vorbei. Kaum eine dieser kulturellen und gesellschaftlichen Einrichtungen in diesem Land unterhält jedenfalls noch einen eigenen moralischen und sprachlichen Kompass. Sehr fern sind die Zeiten, in denen ein bedeutender Verlag wie Suhrkamp den literarischen Skandal gesucht und dann literarisch bewirtschaftet hat. […]
Denkbilder werden in Sendeanstalten, die genau deshalb durch eine Abgabe finanziert werden, um sich auf diesen Mist nicht einlassen zu müssen, durch Espressogeschwätz ersetzt, kritische Diskussionen darüber innerhalb der Redaktionen unterbunden, Programmleiter der großen Anstalten befehlen brüsk mehr Rührung und Regionales im Programm, die entsprechenden internen E-Mails liegen der SZ vor, und sie sind zum Fürchten. […]
Worüber reden wir also? Über Habecks Kinderbücher und Indianer, die nur noch „das I-Wort“ heißen sollen? Über Söder und Chrystal Mett? Über ein Sauflied auf der Wiesn? Was nicht mehr kurz mal schräg ist, sondern tagelang breaking news? So betreiben Zeitungen, Sender und Agenturen die eigene Kernschmelze. Eine Zeitung, die nicht mehr selbst bestimmt, was relevant ist, und eine Sprache dafür findet, die sich deutlich abhebt vom Einerlei der TV-Bauchbinden und Push-Meldungen, ist dem Tode geweiht. […]
Möchte man optimistisch sein, könnte man dieser Tage das hier prognostizieren: Bleiben wird nicht all der Quatsch, all das Pfeifen im Wald von Politik und Medien, bleiben werden angesichts täglicher Ungeheuerlichkeiten, der Frage nach Krieg und Frieden, nach Wohlstand und Armut eine Handvoll klarer, guter Worte. Es ist am Ende an uns, die Texte zu lesen, die von Menschen geschrieben wurden, die ein Gefühl und den Verstand dafür haben, was ein Wort wiegt und welche Verantwortung es bedeutet, Sätze in diese Welt zu entlassen.
Hilmar Klute, sueddeutsche.de, 20.9.2022 (online)