Offensives Theaterkritik-Bashing hat zuletzt zugenommen. Sei es, dass der eigentlich glorios souveräne Schauspieler und Regisseur Benny Claessens es – völlig unsouverän – für nötig erachtet, auf Facebook eine ihm nicht genehme Schweizer Kritikerin übelst zu beschimpfen. Sei es, dass die Theatermatadore Amelie Deuflhard (Kampnagel Hamburg) und Matthias Lilienthal (vormals Münchner Kammerspiele) auf der Webseite der Berliner Festspiele in einem vor Ignoranz strotzenden Selbstgefälligkeitsgespräch die Theaterkritik abschaffen wollen, da ohnehin im „Verfall“ begriffen. […]
Ähnlich wie Politik und Wirtschaft braucht auch die Kunst, braucht das Theater die kritische, erklärende, vermittelnde Begleitung, Einordnung und Kommentierung, ein kundiges, sachverständiges Gegenüber. Zwecks Dialog und ästhetischem Diskurs. Aber auch zwecks Kontrolle. Theaterkritik ist ja sehr viel mehr als Daumen rauf, waagrecht wedelnd oder runter. Sie ist heute mehr denn je: Theaterjournalismus. […]
Dennoch will ich als Kritikerin Absicht und Wirklichkeit einer Inszenierung aufschlüsseln können; will sehen und erklären können, wie mit einer Textvorlage umgegangen wurde. […]
Und warum das alles? Weil Theater die livehaftigste, lebendigste, direkteste, aufregendste, allermenschlichste Kunstform ist. Weil es das Leben in so vielen Möglichkeitsformen durchspielt. Weil es alle anderen Künste in sich vereint und man es mit anderen Menschen teilt.
Christine Dössel, sueddeutsche.de, 6.10.2022 (online)