Über Jahrzehnte meinten die Repräsentanten der demokratischen Öffentlichkeit ein Mittel gegen die Partikularisierung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu besitzen. Sie forderten den Dialog, sie inszenierten den Dialog, und sie ließen sich bei der Finanzierung der vielen Dialoge nicht lumpen. Hin und wieder wird der Dialog immer noch beschworen. Insgesamt jedoch scheint diese Form der Vergesellschaftung von Konflikten ihre besten Zeiten hinter sich zu haben. Das liegt nicht nur daran, dass der Dialog unter den Voraussetzungen harter Gegensätze nur schlecht bestehen kann. Es liegt vor allem daran, dass er so abgenutzt wurde, dass die Heuchelei der Macht, von der die meisten Dialoge vorangetrieben wurden, allgemein sichtbar wurde. Denn was tat ein aus politischen Gründen inszenierter Dialog anderes, als jeden Interessenkonflikt in ein ewig schwebendes, vermeintlich unangreifbares Verfahren mit immer wieder neu gegebenen, aber nie erfüllten Versprechen zu verwandeln? Die Kultur des Dialogs produzierte vor allem eines: mehr Dialoge. Sie war ein gefräßiges Wesen, das die von ihr vertilgten Gegenstände weitgehend unverdaut wieder ausstieß.
Thomas Steinfeld, sueddeutsche.de, 22.09.2020 (online)
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