Seit dem Vormarsch der AfD und den Correctiv-Enthüllungen weiß wirklich jeder, dass die AfD die klassischen Parteien in den sozialen Netzwerken regelrecht deklassiert. Ganz clevere Leute empfehlen den etablierten Parteien seither, die müssten doch jetzt auch mal richtig Vollgas geben in den sozialen Netzwerken und die Demokratiefeinde mit innovativem Content gehörig in die Schranken weisen. Man mag sich etwas die Augen reiben, denn der Appell ähnelt demjenigen, den sich die redaktionellen Medien schon seit vielen Jahren anhören müssen: Könnt ihr nicht mal auch cooles digitales Zeug auf die Plattformen stellen?
Solche Stimmen übersehen, dass Radikale, Extremisten und Demokratiefeinde aus propagandistischem Kalkül den vollen Fokus auf die Netzwerke legen. Für diese Strategie gibt es einen einfachen Grund: Die Plattformen „boosten“ emotionale und aufrührerische Inhalte algorithmisch. Inhalte mit Hass, Hetze und Häme werden dort verstärkt ausgespielt. Die Digitalkonzerne unterstützen so die Radikalisierung von Positionen sowie die Polarisierung in unserer Gesellschaft, sie arbeiten also aktiv mit an der Destabilisierung unserer Demokratie. Trump selbst hat gesagt, ohne Twitter wäre er nicht Präsident geworden.
Besonders zynisch ist, dass die Digitalkonzerne nach wie vor mit strafbaren und demokratiefeindlichen Inhalten Geld verdienen. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Plattformen stellt also jede differenzierte und balancierte Position vor das Problem, gar nicht wahrgenommen zu werden. Das gilt für kluge redaktionelle Beiträge ebenso wie für umsichtig formulierte politische Positionen. In den Netzwerken gilt: Je härter, greller, krasser, emotionaler und skandalisierender, desto besser.
Was sollen die etablierten Parteien also tun? Sollen sie jetzt auch mehr Hass, Hetze und Häme verbreiten, um die AfD in die Schranken zu weisen? Sollen sie zurücklügen und faken? Und wie kann uns Kant bei der Beantwortung dieser Frage helfen?
Was der Philosoph im 18. Jahrhundert noch nicht erkennen konnte, war die Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis von den Medienstrukturen, die die Informationen verbreiten. Seit Marshall McLuhan und dem Media Turn konnten wir erkennen, dass Medien nie unschuldig sind: „The medium is the message.“ Oder, präziser formuliert: Das Medium formatiert, prägt, moduliert die Inhalte.
Martin Andree, freitag.de (online)