Zitiert: Wann die Verwendung identitätspolitischer Kriterien ungerecht wird

Kann man die Verwendung identitätspolitischer Kriterien als „moralisches (ethisches) Problem“ kritisieren, wie es Othmann und Liebert tun, wenn man selbst zumindest mal auch Nutznießer identitätspolitischer Kriterien ist? Die Antwort ist: Klar kann man. Man sollte sogar. Denn in Wahrheit sind wir alle Nutznießer von Identitätspolitik. […]

Wenn ich jemandem meine Promotion vor den Bug schießen kann, dann liegt das eben nicht an meinen individuellen Eigenschaften, sondern daran, dass um 1870 eine Gruppe identitätspolitischer Aktivisten beschlossen hat, dass es nicht richtig ist, wenn Frauen vom Studium ausgeschlossen werden. Und noch aktivistischere Aktivisten sagten: Aber nicht nur anglikanische Frauen, nein, Frauen aller Religionszugehörigkeiten sollten studieren dürfen! Weswegen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleich zwei Frauencolleges (eines für Anglikanerinnen, eines für alle) die Tore öffneten und es der ersten Chemie-Nobelpreisträgerin, Dorothy Hodgkin, oder der ersten Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Margaret Thatcher, oder der ersten indischen Premierministerin, Indira Gandhi, ermöglichten, zu studieren. […]

Man lebte lieber in einer Welt, in der es die Aktivisten nie gebraucht hätte. In einer Welt, die schon immer gerecht war, in der nie auch nur ein einziger Mensch auf die Idee gekommen ist, anderen den Zugang zu verweigern oder die Eignung abzusprechen, aufgrund von so was Lächerlichem wie Identitätskriterien. […]

Wer heute als Frau bildungsbürgerliche Qualifikationen vorweisen kann, ist identitätspolitischen Aktivisten (Suffragetten, Utilitaristen und Liberalen wie Jeremy Bentham und John Stuart Mill, später Feministinnen) zu Dank verpflichtet. […]

Ungerecht wird es da, wo nicht nur an einer Stelle nach Identitätskriterien entschieden wird, sondern immer und immer wieder. Wo selbst eine identitätspolitisch zusammengestellte Jury noch denkt, sie müsse einen Nachteilsausgleich vornehmen, als wäre selbst sie nicht in der Lage, Qualität identitätsunabhängig zu bewerten. Und wirklich gemein wäre es, ein Kriterium nach außen zu verkünden und insgeheim nach einem anderen zu entscheiden.

Nele Pollatschek, sueddeutsche.de, 16.05.2024 (online)

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Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
Out of Space
Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)