Das Thema ist ein Pulverfass, das ist klar: die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 hat nicht nur viele Ressourcen verschlungen, sie könnte je nach Akteur auch als kriegerische Aktivität mit weitreichenden Folgen betrachtet werden. Hinzu kommt, dass trotz multinationaler Bemühungen bislang keine Untersuchungsergebnisse, ja nicht einmal möglicherweise erhobenes Beweismaterial veröffentlicht wurden. Im Gegenteil hatte die Bundesregierung auf Nachfragen von Abgeordneten mitgeteilt, „dass weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls nicht – auch nicht in eingestufter Form – erteilt werden können“. Anfangs in Presse und Social Media erhobene Vorwürfe, Russland habe die Pipeline gesprengt, wurden mit der Zeit wieder leiser, auch mangels Belegen. […]
Diese unversöhnliche – und auf Twitter teils sehr heftige – Polarisierung reiht sich ein in den bisherigen Kriegsdiskurs, ist aber wenig hilfreich. Denn die einen ignorieren, dass ein so weitreichender Vorwurf, wie ihn Hersh vorträgt, gründlich belegt oder zumindest die Angaben der anonymen Quelle mithilfe kritischer Indizienrecherche eingeordnet werden müssten. Von einer solchen Pflicht ist auch kein ehemaliger Pulitzer-Preisträger entbunden.
Die anderen ignorieren die eigene Verdachtsagenda gegen Russland, die in den vergangenen Monaten genauso beleglos und „narrativ“ daher kam wie nun die Behauptungen von Hersh. Auch kann kein Argument sein, dass irgendeine These oder ein Autor allein deshalb zu ignorieren sei, weil die These auch von der russischen Propaganda vorgetragen werde. Die Kritik an der mangelnden Quellenlage ist völlig berechtigt, aber der Maßstab muss für alle gleichermaßen gelten. Das ist oft nicht der Fall.
Friedemann Vogel, uebermedien.de, 11.2.2023 (online)