Zwar sind Wertefragen von Wissensfragen, wie schon Max Weber gesehen hat, kaum systematisch zu trennen, aber das Bemühen um ihre Unterscheidung ist zentral, um deutlich zu machen, wo die Verantwortung der Wissenschaft endet und jene der Politik beginnt. Gelingt das nicht, verlieren alle, die zur politischen Mitsprache berechtigt sind, an Selbstbestimmung, und Regierungen sind nur noch handlungsfähig, wenn sie sich Experten mit medialen Alarmrufen vor den Karren spannen. Dann aber bewegt sich die Wissenschaft jenseits ihres Geltungsbereichs. In wissenschaftlichen Daten zur Letalität und Infektiosität steckt kein politisches Programm für seine Bekämpfung. Die Frage, ob Schulen zu schließen oder zu öffnen sind, kann weder mit der Virenlast im Kinderrachen noch mit dem Bildungsverlust beim Onlineunterricht beantwortet werden. Ansteckungszahlen partout auf eine Inzidenz unter zehn zu drücken, ist keine wissenschaftliche Position. Genau dies aber wurde von Politikerinnen und Experten immer wieder unterstellt, indem sie ihre Werteprioritäten in Zahlen und Modellen versteckten. …
Durch die Verkleidung von Wertekonflikten als Wissenskonflikte geriet aus dem Blick, dass man sich in einer Pandemie, gerade weil es um die Abwägung von Grundwerten wie Freiheit, Gesundheit und Gerechtigkeit geht, zugleich wissenschaftlich einig und politisch uneinig sein kann. Hätten Wissenschaft, Medien und Politik dafür ein Einsehen gehabt, wäre wohl nicht soviel intolerante Bitterkeit entstanden.
Caspar Hirschi FREITAG 46/2021 (online)