Am 1. Februar 2018 trat in Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ in Kraft. In Artikel 17 der sogenannten Istanbul-Konvention werden explizit auch die Medien aufgerufen, „Richtlinien und Normen der Selbstregulierung festzulegen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und die Achtung ihrer Würde zu erhöhen“. Damit wird in einem Gesetz implizit festgehalten, was in der Wissenschaft schon länger Konsens ist und was auch die #MeToo-Bewegung deutlich zeigte: Ob und in welcher Form über Gewalt gegen Frauen berichtet wird, beeinflusst den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Problem.
Christine Meltzer, Kommunikationswissenschaftlerin an der Uni Mainz, hat die Berichterstattung deutscher Tageszeitungen über einen längeren Zeitraum untersucht und rund 3.500 Zeitungsartikel analysiert. Die Autorin hat außerdem die Darstellung in den Medien immer wieder mit „offiziellen“ Daten und Statistiken verglichen. So konnte sie z.B. einige starke Verzerrungen aufdecken und zeigen, dass bereits in der faktischen Darstellung des Phänomens problematische Zerrbilder bestehen: In über der Hälfte der Artikel wird, so ein Ergebnis, über Gewaltfälle berichtet, die mit dem Tod des Opfers enden – dieser Extremfall macht jedoch weniger als ein Prozent aller Gewalttaten gegen Frauen aus.
Christine E. Meltzer : Tragische Einzelfälle?: Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten. OBS-Arbeitspapier 47. Juli 2021 (online)
Ein weiterer Befund ist, dass die überwiegende Mehrheit der Artikel (ca. 70 Prozent) auf der Ebene einer reinen Einzelfallbeschreibung verbleibt. Eine thematische Einordnung, inklusive dem Aufzeigen von Gründen, Lösungswegen und präventiven Maßnahmen bei Gewalt gegen Frauen, findet kaum statt. „Es ist klar, dass nicht jeder einzelne Fall im Kontext struktureller Entwicklungen dargestellt werden kann“, so Meltzer. „Es kann jedoch mit wenigen Mitteln, beispielsweise dem Verweis auf Statistiken und dem Einbezug von Sachverständigen, zum schrittweisen Verständnis für die Dimensionen des gesellschaftlichen Problems beigetragen werden.“ Medien könnten so das Problem sichtbar machen, die Gesellschaft sensibilisieren und auch zum Gewaltschutz beitragen. Letzteres ist, so ein Vorschlag der Untersuchung für zukünftige Medienberichterstattung, auch durch die Nennung von Hilfsangeboten – ähnlich dem Vorgehen bei der Suizidberichterstattung – möglich, aber bisher kaum eine Praxis, die sich in den untersuchten Artikeln nachweisen lässt.
Die Studie zeigt außerdem, dass sich die Herkunft der Täter inzwischen in den Medienberichten stärker niederschlägt. …. Der Umstand, dass sich verharmlosende Begriffe wie „Familientragödie“ oder „Ehedrama“ entgegen der landläufigen Auffassung deutlich weniger in der Berichterstattung niederschlagen, zeige allerdings, so Legrand weiter, dass Medien durchaus in der Lage sind, dazuzulernen und auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu reagieren: „Das stimmt zuversichtlich, dass auch die wenig hintergründige Einzelfallbeschreibung bald an Bedeutung verliert und Medien angemessener und faktensicherer über Gewalt gegen Frauen berichten.“
Presseinformation der Otto-Brenner-Stiftung, 05.07.2021 (online)
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