Auf die Band wird seit 30 Jahren eingeschlagen, in letzter Zeit eigentlich nur noch in Deutschland. Trotzdem bleibt sie auf ihrem Weg. Da steckt noch etwas DDR-Haltung drin – „Wir gegen den Rest der Welt“. Vor allem versteht sie sich als Gesamtkunstwerk, sehr durchdacht. Das unterscheidet sich gewaltig von dem, was man sonst so hört in der Popmusik, also klare Text-Botschaft, unterstützt von Musik. Rammstein schafft einen Erlebnisraum, in dem alle Elemente kombiniert werden, Songs, Sound, Performance bis hin zu den pyrotechnischen Effekten, einzigartig als Gesamterlebnis. Die Elemente haben eine Bedeutung, gehen aber nirgendwo zusammen, sondern bleiben auf allen Ebenen in sich widersprüchlich. Bei näherer Betrachtung ist nichts, wie es scheint. Das Gemisch aus Klangkonzepten schafft diesen offenen Assoziationsraum. Wer sich live auf so ein Klanggewitter einlässt, sagen wir ruhig, auf eine Klangdiktatur, wird widerstandslos hineingezogen. Das setzt Trigger, öffnet ein Gefühl des Befreitseins. Man kann das im Konzert beobachten, wie die Fans mit vollem Körpereinsatz dabei sind. Das ist woanders nicht zu haben. […]
Finge man mit Grenzen in der Kunst an, könnten wir einen Großteil der Kunstgeschichte ausmerzen. Gut finden muss man natürlich nichts davon. Rätselhaft bleibt diese Fixierung auf Rockmusik, wo auf den Opern- und Theaterbühnen dasselbe passiert – akzeptiert als große Kunst, gefeiert in den Feuilletons. Das ist so scheinheilig. Auch haben wir uns daran gewöhnt, dass auf den Schulhöfen Hardcore-Pornografie übelster Art grassiert. Weil keiner Ideen hat, wie man damit umgehen soll. […]
Natürlich haben sie häufig einen verzerrten, einseitigen Blick auf die Welt. Aber das Ausgewogene, Wohltemperierte interessiert auch keinen. Rammstein löst Widerstand aus, keine Frage, den Preis zahlt die Band. Doch sie beklagt sich nie.
Peter Wicke, berliner-zeitung.de, 19.09.2024 (online)