Die Berichterstattung über europäische Themen darf nicht mit Propaganda für oder gegen die EU verwechselt werden. So wie die Berichterstattung über schwere Fälle von Missmanagement in Unternehmen nicht gleichbedeutend ist mit einer pauschalen Ablehnung von Kapitalismus und Demokratie, ist die europäische Integration eine Realität, die erforscht, untersucht und hinterfragt werden muss – aus der kritischen Perspektive des unabhängigen Journalismus. Das Aufzeigen von Fehlentwicklungen ist die beste Chance, die Funktionsweise der EU zu verbessern.
Die Tendenz des populistischen Journalismus, die europäische Integration generell abzulehnen, anstatt über konkrete Probleme und mögliche Verbesserungen zu berichten, wirkt zersetzend. Weder Demokratie noch Kapitalismus sind ideale Systeme, und die EU ist es auch nicht. Nur indem Fehlentwicklungen öffentlich thematisiert und debattiert werden, kann man ihnen begegnen. Es stimmt schon: Die EU ist kompliziert, ihre Institutionen sind schwer zu durchschauen, und noch schwieriger ist es, darüber in einer Weise zu berichten, die so attraktiv ist, dass ein großes Publikum sich dafür interessiert. Die Vereinfachung, Dramatisierung und Dämonisierung “Brüssels”, der EZB oder einzelner Mitgliedstaaten mag spannender erscheinen als eine nüchterne, auf Fakten basierende Berichterstattung über europäische Themen. Aus kurzfristigem medienökonomischem Kalkül kann es als vorteilhaft erscheinen, starke Meinungen zu äußern, ohne konkrete Fakten zu recherchieren: Vordergründige Skandalisierung erregt Aufmerksamkeit und ist billig zu produzieren. Das führt jedoch auf einen gefährlichen Weg: Es braucht immer stärkere Reize, um das Publikum bei der Stange zu halten. So bekommt die Empörung immer mehr Raum – die „Lärmspirale“ dreht sich weiter. […]
Für die weitere politische Integration der EU ist eine Transnationalisierung der öffentlichen Debatten eine Voraussetzung. Ein gemeinsamer Medienraum ist das missing link der europäischen Integration. Es gibt keine grenzüberschreitenden europäischen Massenmedien, und das wird wohl noch lange so bleiben. Aber es gibt Hoffnung – sofern nationale Medien zunehmend eine europäische Perspektive einnehmen.
Henrik Müller, ejo-online.eu, 08.04.2024 (online)