Russische Komponisten sollen von den Spielplänen verschwinden, russische Autoren aus den Bücherregalen – angesichts solch hilfloser Forderungen offenbare sich die enorme Selbstüberschätzung der Kultur als „völkerverbindend“. Die Kultur habe noch nie Gewalt oder Krieg verhindert, kommentiert Stefan Koldehoff. …
Kultur sei völkerverbindend, hieß es nach 1945 immer wieder – in unendlich vielen Einzelprojekten und Institutionen sicher zu Recht und mit politischem Anspruch. Dieses Selbstbewusstsein war vor allem nach ’68 richtig und wichtig: Kriege und Konflikte gingen ja – etwa in Vietnam – weiter; und es brauchte intellektuelle Argumente gegen den Kalten Krieg und seine Ideologien.
Eine Hoffnung aber erweist sich nun wieder als trügerisch – wenn nicht als jahrzehntelange Lebenslüge: Kultur hat noch nie Gewalt oder Krieg verhindert. …
Mit ihrer jahrzehntelangen Selbstüberschätzung als „völkerverbindend“ steht die Kulturwelt aber wenigstens nicht allein da. In der Wirtschaft heißt das gerade wieder einmal gescheiterte Prinzip „Wandel durch Handel“, und auch der Sport hat noch kein Land friedlicher oder demokratischer gemacht. Zeitenwende heißt deshalb auch, über den eigenen Einfluss neu nachzudenken. Es geht nicht um einen Abschied vom Selbstverständnis kultureller Initiativen und Institutionen, an politischen und anderen Interessen Kritik zu üben und jenseits davon eigene, vielleicht auch utopische Gedankenwelten aufzubauen.
Stefan Koldehoff, Deutschlandfunk, 2.4.2022 (online)