Wenn man das Mehrheitsprinzip so stark macht, wie Philip Manow es tut, besteht schlicht die Gefahr, dass eine Demokratie in eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit umschlägt. Eine Diktatur der Mehrheit dürfen wir aber unter keinen Umständen zulassen. Mir kommt bei Manow auch die Situation in Ungarn viel zu gut weg, wo sich der Ministerpräsident Viktor Orbán sich selbst ja stolz als „illiberal“ bezeichnet. […]
Genauer der Umstand, dass Individual- und Minderheitenrechte nicht gegen vom Recht der Mehrheit, Entscheidungen zu treffen, ausgehöhlt werden. Ohne die Garantie individueller Rechte, über die ein unabhängiges Verfassungsgericht wacht, gibt es keine Demokratie. […]
Wenn bestimmte Menschen ihr Leben nicht nach ihren eigenen Vorstellungen leben und im schlimmsten Fall sogar unterdrückt und versklavt werden können, dann ist eine Ordnung nicht allgemein zustimmungsfähig und also illegitim. Auch dann, wenn die Mehrheit jeweils ihren Willen durchsetzt. […]
Mein Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass es keine Demokratie gibt ohne Individualrechte und Minderheitenschutz. Warum nicht? Weil die Demokratie die politische Ordnung ist, die allgemein zustimmungsfähig ist; ohne die rechtsstaatliche Garantie von Individualrechten und Minderheitenschutz wäre sie aber nicht allgemein zustimmungsfähig. Davon scharf trennen muss man die Frage nach den schwindenden politischen Gestaltungsmöglichkeiten in liberalen Demokratien. Das ist tatsächlich ein ernstes Problem. In Wahlkämpfen werden große Veränderungen versprochen, deren Realisierung sich dann als schwierig erweist – wegen internationaler Verträge, wegen wirtschaftlicher Verflechtungen oder weil der nationale Spielraum durch die EU begrenzt wird. Daraus entsteht der Eindruck, dass alles woanders längst entschieden ist und die demokratische Wahl wirkungslos.
Julian Nida-Rümelin, sueddeutsche.de, 09.08.2024 (online)