Mit Netflix begann die Unsitte, TV-Zeugs wie „Harry & Meghan“ als Dokumentation zu bezeichnen. Wir leben im Zeitalter der Nabelschau, was erklärt, warum neuerdings allerhand Leute Filme über sich selbst produzieren. Dauernd verschafft sich Unterhaltung dabei den Anschein von Authentizitiät: Deswegen gibt es erfolgreiche „True Crime“-Fernsehserien und Podcasts, Biopics fluten die Kinos und Sender und Streamingdienste, und gefühlt die Hälfte aller Filme basiert auf Tatsachen – wobei „basiert“ ein besonders dehnbarer Begriff ist. Eine echte Unsitte aber ist es geworden, dass der Gegenstand der Betrachtung eines Films oder einer Serie zufällig auch der Eigentümer der Produktionsfirma im Vorspann ist. Diese Entwicklung hat mit der sechsteiligen Netflix-Serie „Harry & Meghan“ einen neuen Höhepunkt erreicht. […]
Das ist seit ein paar Jahren ein Unding: Selbstporträts – ein Film über eine Person, die gleichzeitig auch Produzent oder Produzentin des Film ist. „Becoming“, auch auf Netflix zu sehen, ein Film über Michelle Obama, hat einiges mit dem von ihr geschriebenen gleichnamigen Buch gemein, und das Bild, das sich der Film von Michelle Obama macht, hat Michelle Obama gemalt. […]
All diese Selbstporträts gehören zu einer Zeit, in der Menschen davon leben, und mitunter nur davon, dass sie sich selbst zu Marken machen. Egal, ob man diese Filme dann gut findet oder sterbenslangweilig: „Dokus“ sind sie nicht. Ein Waschmittelwerbespot ist auch keine Dokumentation über Seifenpulver.
Susan Vahabzadeh, sueddeutsche.de, 21.12.2022 (online)