In der Psychologie definieren wir Vorurteile – anders als im allgemeinen Sprachgebrauch – nicht einfach als Falschinformationen oder Fehlurteile über soziale Gruppen. Denn dazu müssten wir ja wissen, wie deren Mitglieder in Wahrheit sind. Das wissen wir jedoch meistens nicht. Deshalb fassen wir Vorurteile weiter: als Annahmen, die Menschen über Gruppen abspeichern und wonach sie deren Individuen bewerten, ohne zu wissen, ob dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die sozialen Medien unterscheiden sich hier nicht prinzipiell von anderen Kommunikationswegen: Wir haben uns ja vorher auch nicht ständig mit diversen Meinungen auseinandergesetzt, sondern soziale Zirkel aufgesucht, die uns ähnlich sind. […]
Ich würde allerdings bezweifeln, dass es Vorurteile gibt, die immer zutreffen. Das widerspräche auch ihrer Funktion: Unser Gehirn legt verallgemeinerte Wissenseinträge an, um im Alltag schnell Informationen über andere zu verarbeiten. Dafür nehmen wir in Kauf, dass wir nicht jede unserer Einschätzungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können. […]
Im Alltag sprechen wir von Vorurteilen, wenn es um Benachteiligung geht. Daher ist es verständlich, wenn Menschen den Wunsch hegen, sich von ihnen zu befreien. Doch in den meisten Situationen sind sie ein riesiger Vorteil. Hätten wir keine Vorurteile, dann hätte eine fundamentale Fähigkeit unseres Gehirns versagt: die des Kategorisierens. Vorurteilsfreiheit würde bedeuten, unser Gedächtnis nicht zu benutzen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten gegenüber jeder Person, mit der Sie zu tun haben, erst alles neu herausfinden, bevor Sie eine Handlungsentscheidung treffen können. Dafür haben wir selten Zeit oder Lust.
Juliane Degner, sueddeutsche.de, 25.1.2023 (online)