Ich habe mich immer aus der Literaturgeschichte heraus orientiert und mir gesagt, wenn die Filmkunst eine wirklich gleichberechtigte Kunstgattung unserer Zeit sein soll, muss sie ihren Formenreichtum wesentlich erweitern. Weil der klassische 90-Minuten-Film ja der Kurzgeschichte entspricht und der große Roman, der eine besondere Gattung der Literatur ist, im Film gar nicht vorkommt. Das sehen wir in Romanverfilmungen, die funktionieren nur in einer Reduktion des Stoffes auf das novellistische Schema. Und ich habe mich damals dafür eingesetzt, dass alle Formen des Films, vom großen Roman, also vom mehrteiligen Erzählwerk, bis hin zum kleinen filmischen Gedicht möglich sein müssen. Das ist natürlich ein Traum, den ich heute noch träume. Ich habe mich in allen Gebieten versucht, aber sie haben ja keinen Widerhall auf dem Markt. […]
Es war für mich das entscheidende Motiv, sozusagen das Publikum zu bilden. Wie soll sich eine Filmkunst zur Höhe ihrer Möglichkeiten entwickeln, wenn auf der anderen Seite Analphabetismus herrscht? Wenn das Publikum die Sprache des Kinos nicht versteht? Ein literarisches Verständnis lässt sich ohne einen Deutschunterricht mit Lesen und Schreiben und literarischen Erfahrungen nicht erwerben. Das wird in der Schule vermittelt. Aber für den Film gibt es so etwas nicht. Da ist sozusagen das Publikum eine Versammlung von Analphabeten. Es kennt die Sprache und die Grammatik des Kinos nicht und hat infolge dessen auch gar keine Vergleichsmöglichkeit und kann Erfahrungen und Erlebnisse nicht selbstständig bewerten und verteidigen. Das war das eigentliche Anliegen, und das ist es für mich übrigens bis heute: Die Filmkunst kann sich nicht entwickeln, wenn nicht unser Publikum ein kenntnisreicher und erfahrungsreicher Partner ist. Damit wir wissen, wir Filmemacher, wenn wir uns auf die Suche nach Formen begeben, dass wir damit unser Publikum überraschen oder beglücken können. Das muss einfach nachgeholt werden. […]
Es wurde eine große Didaktik des Filmunterrichts entwickelt, und die hat drei Themenschwerpunkte. Erstens: Film sehen. Die Begegnung mit den wichtigsten Werken der Filmgeschichte muss man einfach betreiben, sonst hat man keine Maßstäbe. Zweitens: Film selber drehen, eine Erfahrung des Machens. Dabei lernt man die Virtuosität der Künstler schätzen und erkennen. Und drittens: Film verstehen, seine Grammatik, seine Sprache kennenlernen. Ich habe vorgeschlagen, in Filmfördergesetzen zu verankern, dass jeder junge Regisseur, der eine Förderung beantragt, nicht nur ein Drehbuch einreichen soll, sondern nachweisen muss, dass er mindestens einmal in einer Schule Film unterrichtet hat.
Edgar Reitz, fr.de, 08.01.2025 (online)