Ich weiß, dass der ARD auch schon vorgeworfen wurde, zwar den politischen Dokumentarfilm stolz zu seiner DNA zu zählen, aber mit Sendeplätzen und mit Geld zu geizen. Lassen Sie es mich einmal so sagen: Das könnten wir uns heute, im Jahr 2022, mitten in der digitalen Transformation, gar nicht mehr leisten. Denn längst sind gut recherchierte und sorgsam produzierte Dokumentarfilme als Gegenmittel, gegen hastig ins Netz gepostete Fake News bekannt, erwartet, gewünscht. Linear und digital. Wir beobachten in der ARD-Mediathek einen regelrechten Sog zum langen und mittellangen Dokumentarfilm. Diesem Interesse an Tiefenschärfe, an Analyse zu einzelnen Themen, zu mehr Hintergrund, mehr Einordnung in größere Zusammenhänge, will die ARD entsprechen. Und so geben wir dem Dokumentarischen mehr Sendeplätze in der Primetime – zuletzt dem wichtigen Coming Out-Film in der katholischen Kirche „Wie Gott uns schuf“, der an einem Montag um 20:30 Uhr nach einem Brennpunkt gesendet wurde. […]
Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir einen Dokumentarfilm über den Krieg in der Ukraine sehen werden. Ich mache hier einen deutlichen Unterschied zwischen den Genres des Dokumentarfilms und der Dokumentation, der Reportage und dem Bericht. Die einen sind aktuell, unmittelbar, die anderen analysieren umfassend den Kontext. Ein Dokumentarfilm benötigt Zeit, eine gewisse zeitliche Distanz vom Ereignis. Erst, wenn die letzten Fragmente nach einer Explosion auf dem Boden gelandet sind, beginnen Dokumentarfilmerinnen und – filme ihr Werk.
Patricia Schlesinger, medienpolitik.net, 30.4.2022 (online)