„Wär die Welt doch nicht mit Erinnerungsvermögen geschlagen“ – dann würde der Morgen nicht so schwer. Dann hieße Handlung einfach Handlung und Sprache wäre Sprache. Und beides würde gelten und von einem Anfang zu einem Ende gelangen. Und die Ähnlichkeiten unserer Skelette wäre die Grundlage für gelingende Konversation. Und das Benutzbare würde nicht so verachtet. Die Tür oder die Bierbank, das Fahrrad und die Zeit – das würden wir ernst nehmen als wirkliche Instanzen. Nicht nur überall Metaphern sehen, die auf etwas hinauswollen, ohne je irgendwo anzukommen.
Aber weil das eben nicht so ist, weil die Erinnerung uns vormacht, was war und nicht mehr sein kann. Weil es ein Gestern gibt und ein Morgen, vergangene Welt und neuen Glauben, müssen wir nach Auswegen suchen. Dialoge erfinden, die keinen Sinn ergeben. Versuchsweise sprechen, viel wiederholen und hoffen, dass zumindest das Timing stimmt.
Fünf Schauspieler kommen auf die Bühne und fragen sich zwei Stunden lang, warum sie Dinge tun und andere lassen. Sie, die damit Geld verdienen, sich auszudrücken, drücken sich virtuos um die Frage des Ausdrucks herum. Sie schleichen sich an sie heran, schieben sich an ihr vorbei, kriechen unter ihr hindurch: Alles dreht sich um die Suche nach der verlorenen Illusion. Also die Suche ist das Thema, nicht die Illusion. Von der hat man sich schon lange verabschiedet. Seelendarstellung war einmal. Heute, wo alle sich selbst so gut spielen können, müssen die Schauspieler etwas anderes machen. Nicht mehr spielen, sondern nur noch sprechen. Die Sprache selbst zur Sprache bringen. In zehn Minuten ist eh alles vorbei. Dann hört man wieder nichts.
Simon Strauß, faz.net, 13.12.2024 (online)