Wie haben die Schriftsteller in der DDR diskutiert? Im nun online gestellten Archiv der Zeitschrift „Sinn und Form“ kann man das nachlesen. […]
Ein zusätzlicher Reiz der Lektüre kommt dadurch zustande, dass sich die jeweiligen Wendungen und taktischen Manöver der DDR-Kulturpolitik in den Texten und der Zusammenstellung der Hefte eben fast nie offen aussprechen, sondern sozusagen detektivisch erraten werden müssen. Hinter vielen dieser – so gut wie immer brillanten wie gesondert aufpoliert wirkenden – Lesestücke steckt eine politische Absicht.
Naturgedichte sind zu verstehen als ideologische Versuchsballons; oder lesbar als kulturpolitische Repliken. Ein Lektüre-Tauchgang mit dem Digitalarchiv von Sinn und Form ist erst komplett, wenn man neben dem Laptop die monumental-dreibändige DDR-Kulturgeschichte Gerd Dietrichs aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht liegen hat. Die Erlebnisse auf diesem jetzt möglich gewordenen Lektüre-Ausflug in ein untergegangenes Land sind stereoskopischer Natur. […]
Mit der Veröffentlichung der „Unvollendeten Geschichte“ Volker Brauns im Jahr 1975 vollends scheint Girnus wirklich etwas gewagt zu haben, nämlich die Probe auf Honeckers Ansage, solange man von den festen Positionen des Sozialismus ausgehe, könne es keine literarischen Tabus geben. […]
Die Digitalisierung ihrer Backlist ist das beste Geschenk, das die Zeitschrift Sinn und Form sich und uns für die kommenden Jahre gemacht hat.
Stephan Wackwitz, taz.de, 03.09.2024 (online)