Dass der Bestand an wissenschaftlich gesichertem Wissen und wissenschaftlicher Beratungskompetenz zu den hier umrissenen Fragen gerade im Blick auf die fiktionale Unterhaltung ausgesprochen unterentwickelt ist, ist der Tatsache zu verdanken, dass die Unterhaltungsforschung in den kommunikations‑ und medienwissenschaftlichen Diskursen nach wie vor ein Schattendasein führt. In der universitären und außeruniversitären Forschung ist sie nur unzureichend strukturell verankert. Im Spektrum der deutschen Filmhochschulen hat nach wie vor nur die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF in Potsdam-Babelsberg Universitätsstatus und damit einen ausdrücklichen Forschungsauftrag. Nach meinem Informationsstand findet sich außerhalb der Filmuniversität an keiner anderen deutschen Universität ein einzig auf kommunikations‑ und medienwissenschaftliche Unterhaltungsforschung spezialisiertes Fachgebiet. Im Spektrum der vom Bund geförderten vier großen außeruniversitären Forschungsorganisationen Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft und Leibnitz-Gesellschaft mit ihren aktuell 276 Einzelinstituten ist einzig und allein das seit 2019 der Leibnitz-Gesellschaft zugeordnete Hans-Bredow-Institut in Hamburg der kommunikations‑ und medienwissenschaftlichen Forschung gewidmet. Aber auch am Hans-Bredow-Institut ist keine nachhaltige strukturelle Verankerung von Unterhaltungsforschung zu erkennen. Im Rahmen des auf Beschluss des Bundestages in 2020 gegründeten, dezentralen und multidisziplinären „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)“, in dem dem Bredow-Institut die Aufgabe zukommt, die Rolle der Medien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bestimmen, ist die fiktionale Unterhaltung nicht mal eine Erwähnung wert (vgl. Hasebrink et al. 2020). Die Studie von Schumacher & Warnemünde aus 2019 zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten des medialen und gesellschaftlichen Wandels zeigt, dass Zuschauer/-innen Serien und Filmen im Gegensatz dazu eine hohe Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beimessen (vgl. Schumacher & Warnemünde 2019). Gestützt wird diese Einschätzung des Publikums auch durch soziologische, philosophische, (emotions‑)historische Forschungsätze sowie durch an Ansätze der sozialwissenschaftlichen Foresight‑ und der technikwissenschaftlichen Designforschung. Tatsächlich ist außerhalb der kommunikations‑ und medienwissenschaftlichen Unterhaltungsforschung in diesen Disziplinen und Forschungsbereichen in der jüngeren Vergangenheit ein wachsendes Interesse an Spielfilmen und Serien und auch an einer inter‑ und transdisziplinären Zusammenarbeit vom Science und Fiction zu erkennen.
Die bisherige strukturelle Verankerung von Unterhaltungsforschung in Deutschland steht nicht nur im großen Kontrast zur hohen Publikumsattraktivität und Reichweite von fiktionaler Unterhaltung und zu ihrer Rolle als zentraler Wirtschaftsfaktor und Erfolgsfaktor für Medienunternehmen und als Treiber einer nie dagewesenen Konzentration von Meinungsmacht auf den privaten Medien-Märkten im In‑ und Ausland. Zudem wird sie weder der Bedeutung fiktionaler Unterhaltung für die soziale und kulturelle Identitätsbildung, für die politische Meinungsbildung und ihrem Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und zur internationalen Verständigung gerecht, noch ihrem nachgewiesenen Potenzial, zu einem wünschenswerten sozialen und gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Die unzureichende strukturelle Verankerung von Unterhaltungsforschung hat entsprechend wesentlich dazu beigetragen, dass es in den internen Aufsichtsgremien der ö/r Rundfunkanstalten und in den Landesmedienanstalten gegenwärtig an den für die Wahrnehmung ihrer Aufsichtspflichten nötigen und wissenschaftlich gesicherten Wissens‑ und Entscheidungsgrundlagen fehlt. Dass sich die vielfaltsgefährdende Konzentration von Meinungsmacht auf Seiten einiger weniger, global agierender Streamingdienste gegenwärtig weder erfassen, noch politisch beeinflussen lässt, wird durch den Konzentrationsbericht der Landesmedienanstalten unterstrichen (vgl. Die Landesmedienanstalten 2022: 323). Ein von der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) beauftragtes Gutachten vom Fraunhofer-Institut Focus bestätigt den Bedarf an Nutzungsdaten von Streamingdiensten (vgl. Arbanowski et al. 2021). In der Rundfunkpolitik und in den Aufsichtsgremien der ö/r Sender, in der Wissenschafts‑ und Forschungspolitik von Bund und Ländern und in der universitären und außeruniversitären Forschung selbst ist das Bewusstsein für den unzureichenden Bestand an wissenschaftlich gesichertem Wissen und wissenschaftlicher Beratungskompetenz zur fiktionalen Unterhaltung meinem Eindruck nach noch unterentwickelt.
Die Theorie‑ und Wissensbestände verschiedener Disziplinen und Forschungsansätze und das Erfahrungswissen von Filmschaffenden zu einer inter‑ und transdisziplinären Forschungsinitiative zur Entwicklung von inhaltlichen und formalen Qualitätskriterien für die (beitragsfinanzierte) Unterhaltung und von Methoden zur Qualitätsüberwachung zu bündeln, könnte aus meiner Sicht ein erster wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Aufbau des auch von Vertretern/-innen des Bredow-Instituts angemahnten »Unterbaus« sein, der die Aufsichtsgremien in den Rundfunkanstalten und in den Landesmedienanstalten mit dem Wissens ausstattet, dass für rationale und gute Entscheidungen notwendig ist.
Marion Esch, daff.tv, 09.09.2024 (online)
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