Politik und Gesellschaft werden mit Bekenntnissen und einer bekenntnisnahen Rhetorik überdüngt. […] „Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen“. So befiehlt es der Entwurf des neuen CDU-Programms den Migranten, die in Deutschland leben wollen. Zu dieser Leitkultur gehören „Menschenwürde, Rechtsstaat, Respekt und Toleranz“, aber auch das „Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit“. Und, neu dazugekommen, die „Anerkennung des Existenzrechts Israels“. „Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden.“
Selbstverständlich gilt auch für Fremde, die in Deutschland leben (wollen), die Verfassung. Aber warum muss man sich zu ihr bekennen? Deutschen Staatsbürgern wird das nicht abverlangt. Doch falls eines Tages doch – wie hieße dann die Bekenntnisformel? Wer würde ein solches Bekenntnis abnehmen? Und wann? Und wo? Würde es bis dahin nicht reichen, wenn man fordern würde, die Verfassung, also den Kern der Leitkultur, einfach zu beachten, sich nach ihr zu richten? Und wer dies nicht tut, hätte wie jeder Bürger dieses Landes die Folgen zu tragen? Was verspricht man sich von einem Bekenntnis, was anders nicht zu haben ist? Was ist das überhaupt – ein Bekenntnis? […]
Bekenntnisse stehen für Inklusion. Doch im selben Maß auch für Exklusion. Die großen Bekenntnisse spalten – Religionen, Völker, politische Parteien. Die eher kleineren auch Vereine, Freundschaften, Familien.
Norbert Schneider, tagesspiegel.de, 19.12.2023 (online)