Was Brautmeier tatsächlich meint, ist Parteipolitisierung. Sie bezeichnet einen sehr komplexen Prozess, in dem sich die politischen Parteien möglichst viele andere Gruppen und Kräfte der Gesellschaft (Gewerkschaften, Kirchen usw.) und möglichst viele Personen (Prominente, Chefs usw.), die nicht ihre Mitglieder sind, ‘anverwandeln’. Manche sagen auch: sich einverleiben. Besonders anschaulich wird dies etwa bei Personalentscheidungen, die dann in der Regel zugunsten der einen oder anderen Partei ausfallen. Ein wesentliches Ziel ist, dass eine Partei auch dort Mehrheiten schafft, wo sie auf dem Papier in der Minderheit ist.
Doch der Versuch einer Parteipolitisierung etwa der Gremien der Rundfunkaufsicht wäre chancenlos, wenn es nur auf die Parteien und deren Willen ankäme. Sie gelingt nur, wenn sich auch diejenigen gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte, die es unabhängig von Parteien gibt und für die man nicht zufällig die doppelbödige Sammelbezeichnung ‘Die Grauen’ erfunden hat, nicht förmlich, aber faktisch mit dem jeweiligen Parteiwillen verbinden. Auch zur Parteipolitisierung gehören immer zwei.
Artikel 21 des Grundgesetzes konstatiert zwar im Satz 1: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Doch die Parteien haben, ohne dass sie dabei auf großen Widerstand gestoßen wären, aus einer Mitwirkung im Lauf der Jahre ein Monopol gemacht. Das Resultat ist eine Parteiendemokratie, wie wir sie in Deutschland seit langem haben.
Die Rundfunkaufsicht in Deutschland ist ein bevorzugter Ort für Parteipolitisierung. Über viele Jahrzehnte konnte man beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk beobachten, dass sich bei Entscheidungen (vor allem in Personalfragen) die Gruppen und Kräfte in der Regel der jeweils aktuell dominierenden Partei anschließen (es gibt, was dies betrifft, nur zwei). Ein besonders erprobtes Modell praktizierter Parteipolitisierung sind die beiden Freundeskreise, in denen die Entscheidungen des ZDF-Fernsehrats vorbereitet werden.
Diese Praxis ist und bleibt fragwürdig. Sie gibt den Parteien mehr, als ihnen eigentlich zusteht. Doch da sie von den ‘Grauen’ geduldet, ermöglicht oder unterstützt wird, kommt – sieht man vom Wortlaut der Verfassung ab – förmlich niemand zu Schaden. Zudem muss man anerkennen, dass in einer solchen Zweier-Formation die Aufsicht leichter (vielleicht sogar angesichts der Größe der Gremien überhaupt nur noch) zu organisieren ist.
…. Diese „Lex Brautmeier“ wurde allenthalben kritisiert. Ich kann das, selbst Nicht-Jurist, verstehen. Doch bei aller Kritik sollte man nicht übersehen, dass auch diese Lösung sich aus dem Arsenal jener Instrumente bedient hat, die unter das Stichwort „Parteipolitisierung“ fallen. Es ist die Parteipolitisierung selbst, die zu kritisieren wäre. Sie ist nicht verwerflich. Sie ist aber, auch wenn das angesichts einer parteipolitisch bestimmten Rundfunkaufsicht in Deutschland ein wenig blauäugig erscheinen mag, keineswegs alternativlos.
Zweierlei müsste für eine Alternative zusammenkommen: der Verzicht der Parteien auf ein Monopol in der politischen Willensbildung und die Bereitschaft der Gruppen und Kräfte, das Mandat, das ihnen der Gesetzgeber zuweist, anzunehmen. Würden diese Gruppen und Kräfte auf eigene Rechnung an der politischen Willensbildung teilnehmen, so, wie es Artikel 21 des Grundgesetzes unterstellt, wären die Parteien vielleicht immer noch dominant, aber die Mehrheiten würden ihnen nicht mehr in den Schoß fallen. Sie müssten sich – und wer denkt hier nicht alsbald an Minderheitsregierungen? – in jedem Einzelfall aufs Neue bemühen.
Die kurze Geschichte der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt zeigt beides: was passiert, wenn die Parteien jeweils allein das Sagen haben, und auch, was die Gruppen und Kräfte leisten können, wenn sie und gestützt durch sie das Haus selbstbewusst agieren. Alternativlos ist hier gar nichts.
Norbert Schneider, Medienkorrespondenz.de, 14.02.2018 (online)
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