Der Blick auf Tatsachen ist immer der Blick für Details, für Einzelheiten. Der „Spiegel“ half beim Zivilisationsprozess der Bundesbürger. Er weckte und fütterte ihre Neugierde für die Vorgänge im politischen Alltagsgeschäft, und er gewöhnte sie daran, dass man dabei auch rücksichtslos vorgehen sollte. Die „Spiegelschreibe“ war Ausdruck dieser Haltung, zugleich beförderte sie sie. Der in den frühen Jahren meist anonym bleibende Schreiber war wie ein Autor: Er wusste alles besser. Die in der Wirklichkeit und ihren Widersprüchen sich bewegenden realen Menschen, Politiker oder Bürokraten, waren per se dümmer als die über sie berichtenden Journalisten.
Das war die eigentliche Revolution des „Spiegel“. Er war niemals ein „Sturmgeschütz der Demokratie“. Schon darum nicht, weil in den mehr als 70 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte niemals Sturmgeschütze aufgefahren werden mussten, um die Demokratie zu schützen. Die militärische Metapher belügt uns über die – bei allen Auseinandersetzungen – doch zutiefst zivile, friedliche Konstitution der Bundesrepublik. Der Ton der Unbotmäßigkeit – das war die Botschaft des „Spiegel“. Sie war immer verbunden mit der engsten Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen.
Arno Widmann, fr.de 03.01.2021 (online)