Die ARD hat letzte Woche eine Themenwoche zu der Fragestellung „Wir gesucht. Was hält uns zusammen?“ veranstaltet. Die vom Autor dieser Zeilen schon oft vorgetragene These dazu lautet: Wenn über Fragen des Zusammenhalts einer Gesellschaft und ihrer sie tragenden Werte ernsthaft gesprochen werden muss, ist es eigentlich bereits zu spät.
Eine funktionierende und gut integrierte Gesellschaft muss darüber nicht diskutieren. Der Zusammenhalt ist da, wie die Luft, die die Menschen umgibt und die sie atmen. Mit den Werten verhält es sich ähnlich wie mit den Vitaminen: Man merkt ihre Bedeutung erst dann, wenn es einem an ihnen mangelt. Nur dass es Werte nicht als Brausetabletten gibt, die man als Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen kann. […]
Es rächt sich nun, dass der Zusammenhalt in einer kapitalistischen Gesellschaft vom Markt gestiftet wird und dass es außer Geld nichts gibt, was ihre Mitglieder interessiert und zusammenhält. Die Marktvergesellschaftung ist expansionistisch und zehrt die verbliebenen Gemeinschaften, ihren Widerpart, auf. Unterm Neoliberalismus ist der Tauschwert bis in die Poren des Alltagslebens vorgedrungen und hat die letzten Reste traditioneller Gemeinschaftlichkeit zerstört.
Die Vermittlungen und Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten und es vor ihm schützten, werden geschleift. … Wir sind in den Zustand einer a-sozialen Dekadenz eingetreten und befinden uns in moralischer Auflösung. Werte, Zusammenhalt, Sinn – das sind Reparaturkategorien, die zu spät kommen und lediglich den Untergang flankieren. […]
Im günstigsten Fall alimentiert der Staat die Armen, aber an die Ursachen der Armut kann und will er nicht rühren. Obdachlose werden behandelt wie Tauben, an deren Landeplätzen man spitze Abweiser anbringt. … Das Elend ist keine strukturelle Konsequenz der gesellschaftlichen Organisation und ihrer Eigentumsverhältnisse, sondern liegt jeweils in der Person des Elenden selbst begründet.
Götz Eisenberg, telepolis, 15.11.2022 (online)