Seit ihrer Erfindung kurz vor 1600 in Oberitalien hat sie mit unstillbarem Hunger alle Künste verschlungen, alle Neuerungen mitgemacht, sich von Vision zu Vision gehangelt. Adels- und Herrscherkritik, Aufklärung, Feminismus und Liebesideale, Geschlechteridentität und Gesellschaftsentwürfe sind von Anfang an und nach wie vor ihre Themen, die bevorzugt in Liebesgeschichten und in Musik jeder Couleur und Spielart verpackt werden.
Oper ist durch Kunst emotional verständlich vermittelte Philosophie. Sie führt mit der von der Wiener Klassik an auch in die Komposition vordringenden Arbeitsteiligkeit in der Gesellschaft vor, wie die widersprüchlichsten Theorien, Techniken, Träume in einem Gemeinschaftsprojekt zusammengefügt werden können, zu einem stimmigen Ganzen. Keine andere Emanation von Kunst schafft das, kein Buch, kein Gemälde, kein Gedicht, kein Song, keine Skulptur, kein Drama, kein Pas de deux – sie alle sind befangen in ihren eigenen Grenzen. Während der Oper Entgrenzung und Grenzüberschreitung als Wesen eingeschrieben ist.
Warum betreibt die Oper diese Entgrenzung, warum betreibt sie die Synthese aller Kunstformen? Vielleicht, weil die menschliche Psyche nur bedingt fürs Schlichte und Eindimensionale zu haben ist, sondern mit Glücksgefühlen bereit und fähig ist, Komplexes spielend leicht aufzuschlüsseln. […]
Oper übergießt ihre Komplexität, ihre Problemstellungen und die regelmäßig aufgeworfenen, aber auch von ihr nicht lösbaren Menschheitsfragen mit Musik, die als Bindemittel all die unterschiedlichen Kunstformen zusammenhält und sie sich herrisch untertan macht. Mag ein Libretto noch so thesen- oder theorielastig, eine Regie noch so versponnen sein, die Schauspielleistung der Sängerinnen eher klobig, die Kostüme scheußlich, das Bühnenbild plump – die Musik kann das alles ausgleichen.
Reinhard J. Brembeck, sueddeutsche.de, 26.08.2025 (online)

