Ob nun Instagram-Likes schwer genug wiegen, um eine Mitarbeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unmöglich zu machen, weil man daraus rückschließen würde, dass Nemi El-Hassan nicht hinter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe – das wäre die entscheidende Frage, die der WDR klären und beantworten müsste. Sind die Likes eine unverzeihliche Grenzverletzung und wo genau wäre die Grenze? …. Stünde El-Hassan tatsächlich nicht hinter unserer Verfassung, dürfte sie aber auch nicht hinter der Kamera arbeiten, schließlich könnte sie auch dort „unangebracht politisieren“ – wie auch immer das praktisch aussehen könnte in einer Wissenschaftssendung, die die Themen Umwelt, Technik, Psychologie und Weltall behandelt. Dass Tom Buhrow sich nun vorerst nur gegen eine Sichtbarkeit Nemi El-Hassans vor der Kamera ausspricht, zeigt, dass es gar nicht um die Sorge geht, diese könnte journalistische Inhalte unangemessen politisieren, sondern darum, dass die Sendung in der Öffentlichkeit zum Politikum werden würde. ….
Wenn Intendanten und Chefredakteurinnen jeder Empörungswelle nachgeben würden, hätte auch der Komiker Dieter Nuhr keine Sendung in der ARD mehr, die Comedian Lisa Eckhart dürfte nicht mehr im Fernsehen auftreten, würden die Welt und die taz ihre Kolumnisten und Kolumnistinnen feuern. Dann hätten wir die viel beschworene Cancel Culture, von der konservative Medien oft raunen.
Judith Liere, Zeit Online, 29.09.2021 (online)