Neben den sprachlichen trainiert es auch fast alle anderen kognitiven Fähigkeiten, das Gedächtnis, das abstrakte und analytische Denken, das Erschließen von Zusammenhängen, die Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit. Es verleiht die Fähigkeit, hinter Phrasen zu blicken und somit eine Sicht auf die Welt aufzubauen, die sich frei macht von vorgekautem Gedankenmatsch. Das bewahrt einen davor, sich manipulieren zu lassen durch andere Menschen, durch Scharlatane in der Politik, durch die Werbung. Es ist die Voraussetzung dafür, unabhängig zu denken. […]
Wenn man es geschafft hat, Buchstaben flüssig zu Worten und Sätzen zu verbinden, hat man das Lesen noch längst nicht ausgelernt. Die Reise geht dann erst los. Bildungsforscher unterteilen die Lesekompetenz in fünf Stufen, von denen die fünfte und höchste – tief und kritisch auch in komplizierte, thematisch fremde Texte eindringen zu können – gerade einmal ein Prozent der deutschen Bevölkerung erreicht. Besser (und immer besser) lesen zu lernen, ist eine Sache schierer Routine, es hat aber auch mit Frustration und ihrer Überwindung zu tun, damit, gelegentlich zu scheitern. […]
Als mit der Industrialisierung die Maschinen den Menschen die körperliche Arbeit weitgehend abgenommen hatte, kam im 19. Jahrhundert die Turnbewegung auf, ein Jahrhundert später die Fitnesskultur. Heute ist ein durchtrainierter Körper ein Statussymbol. Morgen ein durchtrainierter Geist, gestählt an echten, gedruckten Büchern?
Philipp Bovermann, sueddeutsche.de, 15.09.2025 (online)