Natürlich ist es immer besser, sich die Dinge erst einmal gründlich anzusehen, bevor man sich äußert. Und in meinem Fall wäre das sicher möglich gewesen. Aber im täglichen Journalismus ist es das oft nicht. Die Lage ist meistens unübersichtlich. Journalisten sehen nur einen Ausschnitt. Trotzdem ist der übliche Weg, mit falschen Einschätzungen umzugehen, sie einfach nicht mehr zu erwähnen und neue zu formulieren, als wäre man immer dieser Ansicht gewesen. Wenn Redaktionen faktische Fehler machen, die sich nur schwer leugnen lassen, ringen sie sich manchmal zu einer Korrekturmeldung durch. Bei Einschätzungen passiert das in der Regel nicht. …. Falsche Einschätzungen sind im Rückblick Fehler und damit Makel für die eigene Reputation. Aber sie sind keine Ausnahme, sie sind der Normalfall. Um anders mit ihnen umgehen zu können, wäre jedoch ein anderes Verständnis nötig. Journalisten denken, wie sie arbeiten – von Beitrag zu Beitrag. Sie vermitteln den Eindruck dass ihr Werk bei der Veröffentlichung eine vollständige Darstellung wäre. Müssen sie einen alten Beitrag korrigieren, erscheint es, als hätte sie unsauber gearbeitet (was möglicherweise so ist, aber nicht so sein muss).
Christian Drosten sagt in seinem Podcast, er wisse nicht alles, er lese jeden Tag, er erfahre jeden Tag Neues. Damit macht er seine Arbeitsweise transparent. Nach diesem Verständnis kommt nie der Punkt, an dem alles richtig ist, weil sich im nächsten Moment schon etwas ändern kann. Daher ist eine Korrektur auch keine Schande. Das Verstehen und Erklären ist hier kein Prozess, der mit der Veröffentlichung endet, sondern einer, der sich dem Ziel, die Wirklichkeit darzustellen, immer weiter annähert, ohne es jemals erreichen zu können.
Ralf Heimann, MDR Altpapier, 13.03.2020 (online)
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