Man könnte das Thema mit einer abgegriffenen Darstellung bebildern. Ein Mensch auf einem Drahtseil. Der Mensch da oben wäre Journalist, und wenn er beim Berichten zu sehr seine Haltung zeigt, so die gängige Vorstellung, dann fällt er auf der einen Seite herunter, denn dann nehmen Menschen ihn als Aktivisten wahr.
Versucht er, eine objektive Haltung einzunehmen oder sogar neutral zu sein, legt man ihm das unter Umständen als Schwäche aus, als fehlendes Rückgrat oder als krummen Versuch aus, etwas vorzuspielen, was überhaupt nicht der Fall sein kann, denn natürlich steht auch dieser Mensch in Wirklichkeit irgendwo – und warum das verheimlichen? Hier wäre die Gefahr, auf der anderen Seite vom Seil zu kippen.
Das Einerseits-andererseits birgt die Gefahr, dass man in guter Neutralitätsabsicht Dinge nebeneinanderstellt, die den Eindruck von einem Gleichgewicht erzeugen, das so nicht existiert (False Balance).
Das ist die Debatte im Überblick, sie wurde immer wieder geführt. […]
Was aber, wenn es gar nichts anderes gibt als Haltungsjournalismus? Wenn jede Form von Journalismus durch Sprache schon irgendeine Haltung zum Ausdruck bringt – auch dann, wenn sie vorgibt, objektiv zu sein? […]
Das Ziel könne nicht mehr sein, den „Blick von Nirgendwo“ einzunehmen – ein Begriff, den der US-Medienwissenschaftler Jay Rosen geprägt hat, um die Illusion eines völlig neutralen Journalismus’ zu beschreiben, also eines Journalismus’, der, so die Vorstellung, einfach die Wirklichkeit abbildet –, sondern transparent zu machen, von wo aus man schaut.
Lösen lässt sich das auf eine Weise, die sich im Journalismus zunehmend durchsetzt: durch Transparenz.
Glaubwürdigkeit – hier verweist Dobusch wieder auf Rosen – entstehe nicht durch Distanz oder vermeintliche Wertfreiheit, sondern durch nachvollziehbare Arbeit: Recherche, Faktenprüfung, Kontextwissen.
Zusammengefasst: Ein Journalismus, der seine Haltung offenlegt, sei ehrlicher und demokratischer als einer, der so tut, als stünde er über den Dingen. […]
Und Haltung bedeutet ausdrücklich nicht Aktivismus. Zu Haltung gehört im besten Fall auch ein Ideal von Fairness, also die Absicht, auch die Position fair darzustellen, die nicht die eigene ist.
In der Sache Esslinger vs. Dobusch heißt das: Im Grunde haben beide recht, nur auf unterschiedliche Weise. Esslinger verteidigt ein Ideal, dessen Grundlage eine Vorstellung ist, die ihren Ursprung in der klassischen Medienwelt hat. Dobusch sagt: Dieses Ideal beruht auf einer Illusion.
Am Ende steht damit nicht die Frage: Darf Journalismus Haltung zeigen? Sondern: In welchem Maße und wie transparent sollte er das tun?
Christian Bartels, MDR Altpapier, 09.10.2025 (online)

