Erzähljournalismus, dessen Handwerk häufig und auch abschätzig verallgemeinernd «Storytelling» genannt wird, ist nicht dasselbe wie die Reportage. Indem in den Geschichten Charaktere, Szenen und Dialoge als Vehikel für den Faktentransport benutzt werden, sollen relevante Erkenntnisse effizient vermittelt, die Aufmerksamkeit der Leserschaft länger gehalten werden. Dass Journalisten dabei immer wieder vom «Kino im Kopf» sprechen ist nicht Zufall. Mit dem Geschichtenerzählen antwortet der Text-Journalismus auf die Aufmerksamkeitskonkurrenz durch Bildmedien, den Fotojournalismus oder das Fernsehen, Youtube-Clips oder Netflix-Serien. Allerdings tun die Texte dies häufig mit deren Waffen. Sie arbeiten ebenso mit Szenen, Charakteren und Cliffhangern. Zudem geben sie, meist aus der Perspektive einer allwissenden Instanz erzählt, wie Kameras vor, objektiv-distanziert zu sein. Dies kann durchaus noch als seriöser Journalismus funktionieren. Die Grenze zum Hintergrundboulevard ist aber häufig nur ein Klischee entfernt.
Pascal Sigg, infosperber.ch, 29.11.2022 (online)