Polarisierung. Kaum ein Konzept wurde in letzter Zeit häufiger als Erklärung für den Zustand der deutschen Gesellschaft verwendet. In der Tat ist Polarisierung ein starkes Narrativ. Doch starke Narrative verleiten oftmals zur Verallgemeinerung. Im Folgenden werden drei weitverbreitete Mythen über Polarisierung in Deutschland betrachtet, Fehlannahmen herausgearbeitet und drei Lösungsansätze für ein besseres Vorgehen vorgestellt. …
Studien zeigen, dass Deutschland derzeit weniger polarisiert ist, als die mediale Lautstärke vermuten lässt. In Deutschland konnte man die Situation der Parteien vor der Bundestagswahl kaum als polarisiert charakterisieren. … Zudem zeigt eine Studie von More in Common (2019) mit 4000 Teilnehmenden, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht in zwei Pole, sondern drei Lager aufteilt: die gesellschaftlichen Pole, die Unsichtbaren und die Stabilisatoren. Innerhalb des Drittels der gesellschaftlichen Pole stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Zum einen gibt es „die Wütenden“, die das System ablehnen und Eliten misstrauen. Zum anderen finden sich „die Offenen“, die Weltoffenheit, Kompromissbereitschaft und politischen Austausch predigen. …
Alles in allem sollte die Gefahr, dass soziale Medien den gesellschaftlichen Diskurs mit Hass und Hetze anheizen, nicht unterschätzt werden. Doch laut einer Studie von ARD/ZDF waren in Deutschland 2020 auf Twitter gerade mal 5 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre mindestens einmal die Woche aktiv. Bei Instagram sind es 20 Prozent und bei Facebook 26 Prozent. Die Nutzung sozialer Medien allein kann also nicht das Hauptproblem dafür sein, dass sich die aktuelle politische Debatte für einen Großteil der Bevölkerung toxisch anfühlt. Stattdessen spielt eine andere Dynamik eine viel wichtigere Rolle: die zwischen sozialen Medien, Politik und traditionellen Medien, sprich Fernseh-Talkshows, Radio und Zeitungen. Es gibt kaum Politikerinnen und Politiker, Aktivisten oder Medienschaffende, die nicht auf sozialen Medien vertreten wären. Soziale Medien sind für Meinungsmacher ein überlebenswichtiges Werkzeug, das die eigene Popularität, Macht und den eigenen Einfluss voranbringt. Da besonders emotionale oder reißerische Artikel geteilt und geklickt werden, verleitet dies zu Überspitzung. … Das, was die deutsche Gesellschaft momentan erlebt, ist weniger eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, sondern eine immer personalisiertere Auseinandersetzung, bei der ein kleiner Teil der Bevölkerung (politische Eliten und Meinungsmacher) von einem ebenfalls nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung (wütende Online-Trolle) mit Hass und Hetze überzogen werden – was sich wiederum auf die breite Debattenkultur auswirkt. …
Das Gesamtbild in Deutschland ist komplexer als eine einfache Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Lager. …
Die Unsichtbaren sichtbar machen: Die meiste Aufmerksamkeit erhalten momentan diejenigen, die am lautesten schreien. Stattdessen müssen wir Möglichkeiten schaffen, besonders denjenigen Gehör zu verschaffen, die am Anfang als die „Unsichtbaren“ beschrieben wurden. Politik, Medien sowie politische und soziale Stiftungen können hier also einen wichtigen Teil dazu beitragen, die „Unsichtbaren“ und ihre Sorgen, Nöte und Meinungen stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden.
Paula Köhler, Internationale Politik, 01.11.2021 (online)