Spätestens seit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine ist der intellektuellen Debatte diese Gelassenheit wieder abhandengekommen. Es regiert der glühende, zornige, brennende Ton. Menschen, die noch vor Wochen jede Kolumne genutzt haben, um gegen „toxische Männlichkeit“ anzuschreiben, verehren den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskji für seine Auftritte vor Parlamenten, in denen er Regierungschefs anderer Länder mit blumigen Worten als Schlappschwänze tituliert, weil sie nicht militärisch eingreifen wollen. Wer sich gegen Nationalismus eingesetzt hat, erhebt keinen Einspruch, wenn an öffentlichen Einrichtungen nun mit der blau-gelben Flagge ausgerechnet das Machtsymbol einer Regierung weht, die bislang nicht durch eine Abwendung vom Nationalismus aufgefallen ist. Und kaum jemand unter den gendersensiblen Kulturpromis stellte bislang die Frage, wie gut ein Staat sein kann, der Männer unter 60 Jahren zwingt, das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
Christian Baron, sueddeutsche.de, 13.4.2022 (online)