Dieser kam bisher kaum zur Sprache. Claas Relotius war als freischaffender Reporter ein Nobody in einem schwierigen Marktumfeld, als er seine ersten Artikel verkaufte. Denn die grossen Redaktionen, welche Erzähljournalismus in den Jahren vor dem Skandal publizierten, wollten häufig Unmögliches: Im entsprechenden Text sollte sich das grosse Ganze im Kleinen zeigen. Dabei sollten die ProtagonistInnen der Geschichten als Stellvertretungen für grössere gesellschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche Entwicklungen stehen – und diese so für die Leserschaft effizienter, unmittelbarer, erfahrbar machen.
Als unbekannter «Freier» musste Relotius zweimal Verkäufer sein. Zuerst musste er einer Redaktion eine Idee für einen Artikel mit Arbeitsthese zum «grossen Ganzen» verkaufen. Und danach die fertige Geschichte selbst. Dabei dürfte er den Grossteil des finanziellen Risikos der Recherche getragen haben. So ist anzunehmen, dass er wiederholt Ideen verkaufte, die sich danach vor Ort nicht umsetzen liessen. Weshalb er jene Teile der bereits verkauften Geschichte erfand, die er eben nicht recherchieren konnte – und so allmählich den zeitgeistigen Story-Code knackte.
Pascal Sigg, infosperber.ch, 29.11.2022 (online)