„Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen« lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. …. Brecht führt aus, daß häufig allein die Logik des Formalen, die Verkettung der Sätze den Anschein des Richtigen und Folgerichtigen bewirkt. Aus einer unrichtigen Prämisse lassen sich nach den Gesetzen der Logik mehrere richtige Folgerungen ziehen: »Das Folgern ist dann richtig, aber die Sätze sind nicht richtig.« Wieder ist es nicht der Inhalt, sondern die Form der Sprache, ihr Zusammenhang, der die Illusion von Wahrheit erzeugt. Und wieder ist es der genaue Blick auf die Mechanismen der Sprache, der diese Illusion stören und zerstören hilft.“
Sabine Habel: Wahrheitskunst. In: Sinn und Form, Drittes Heft, 2017, S. 424 über Brechts Anleitung zum richtigen Lesen (online)